Handarbeit und Fleiss
14. November 2022

Handarbeit und Fleiss

Sozialverträglichkeit. Dieses Thema beschäftigt uns seit unserem Start. Mehr noch, es war entscheidender Auslöser für den Aufbau von glore in der Schweiz. Trotzdem hat es ziemlich genau siebeneinhalb Jahre gedauert bis zu ersten Besuchen in verschiedenen Produktionsstätten. Während ihres Urlaubs in Portugal hat Rebekka diese Chance wahrgenommen und sowohl mit Carpasus als auch mit Jan ‘n June diverse Fabriken besucht.

Aber nochmals einen Schritt zurück. Was meinen wir eigentlich mit «Sozialverträglichkeit»? Und warum ist es so ein wichtiges Thema? Der Duden definiert Sozialverträglichkeit mit «das Vereinbarsein mit sozialen Belangen, mit dem Allgemeinwohl». Die Fair Wear Foundation zum Beispiel, die sich für hohe Sozialstandards in der Konfektion einsetzt, umfasst acht entscheidende Punkte: Keine Zwangsarbeit, Vereinigungs- uns Verhandlungsfreiheit, keine Diskriminierung, keine Kinderarbeit, existenzsichernde Löhne, verantwortbare Arbeitszeiten, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen sowie vertraglich geregelte Arbeitsverhältnisse.

Dass dies in der Modeindustrie alles andere als Normalität ist, zeigt sich leider immer wieder und in vielerlei Facetten. Fabrikeinstürze wie jener von Rana Plaza 2013, bei welchem über 1000 Menschen ums Leben kamen (im Übrigen der Auslöser für die weltweite Fashion Revolution Bewegung zeigen deutlich, wie grauenhaft sich Konsumwahn, Kostendruck und hemmungsloser globaler Wettbewerb auswirken. Als wäre es nicht genug, dass Fabrikbesitzer:innen oftmals das Leben ihrer Mitarbeitenden riskieren, gehören zum Beispiel auch physische, psychische und sexuelle Gewalt zur Tagesordnung. Und dann ist da noch das erdrückende Thema der Löhne, die in sehr vielen Fällen nicht annähernd für ein sicheres und gesundes Leben ausreichen und Familien über Generationen in der Armutsfalle gefangen halten. Die Arbeit der Fair Wear Foundation und ähnlicher Initiativen hat nach wie vor ihre beschämende Berechtigung.

Schon 2015 waren diese Umstände eine Hauptmotivation für unsere Arbeit. Ehrlicherweise müssen wir zugeben, dass die Absichten zwar schon damals sehr integer waren, wir aber insgesamt noch eher an der Oberfläche kratzten. Einerseits war die Branche an sich noch viel weniger weit als heute, es gab nur eine überschaubare Anzahl Fair Fashion Brands und alles war noch viel intransparenter. Andererseits waren wir selbst noch unerfahrener und hatten für eine vertiefte Auseinandersetzung weder Know-how noch Ressourcen. Seither hat sich bei uns aber einiges verändert. Wir sind inzwischen ein 13-köpfiges Team und investieren viel in tiefschürfende Recherche, Aufbereitung von Wissen und einen intensiven, zielgerichteten Austausch mit den Brands. Dabei ist auch die Thematisierung von existenzsichernden Löhnen ein Dauerbrenner. Leider ein müssiges, denn gerade für die kleineren Unternehmen ist es nach wie vor teilweise unmöglich, an die umfassenden Informationen zu kommen, geschweige denn, in den Fabriken als kleine:r Auftraggeber:in eine Veränderung einzufordern. Diese Herausforderung haben wir im April auch öffentlich mit drei Brands an unsere Focus!-Abenden zum Thema Living Wages diskutiert.

Die bittere Realität: Viele Menschen beurteilen Sozialverträglichkeit meist als sehr wichtig. Beim Kaufentscheid sind die Probleme dann aber doch weit weg. Während wir die qualitativ hochwertige Pima-Baumwolle aus biologischem Anbau auf der Haut spüren, merken wir von den unbezahlten Überstunden der Näherin nichts. Und dann sind da noch unsere Gewohnheiten, die uns oft etwas anderes tun lassen, als was wir als wichtig empfinden. Das nennt sich Attitude-Behaviour-Gap. Hinzu kommt das Greenwashing, dass uns zur Zeit an jeder Ecke begegnet und daraus resultierend eine schiere Überforderung, wenn es als Konsument:in um gute Kaufentscheidungen geht. Umstände, die eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht gerade massiv vorantreiben. Im Gegenteil. Umso wichtiger also unsere Auseinandersetzung mit der Thematik.

Sozialverträglichkeit. Sie gehört neben der Umweltverträglichkeit zu unserem Kern dazu. Unser Anspruch an uns selbst ist, in diesen Fragen umfassendes Expert:innen-Wissen zu erlangen und dieses mit Interessierten zu teilen. Das ist die Legitimation eines Ladens wie glore, es ist unsere Essenz. Doch auch wenn wir uns täglich mit diesen Themen auseinandersetzen und von den Brands aussagekräftige Aussagen dazu einfordern, auch für uns ist die Realität der Nähfabriken, der Spinnereien und Webereien, der Baumwollfelder oft weit weg. Die Grösse unseres Unternehmens erlaubt es uns nicht, regelmässig vor Ort zu sein. Bei so vielen Brands mit jeweils mehreren Produktionsstätten und einer vielschichtigen Zulieferkette ist das ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Aber manchmal tut sich plötzlich eine Möglichkeit auf. Wie diesen September, als Rebekka privat in Portugal unterwegs war und mit Carpasus und Jan ‘n June auf Tour durfte.

Ein exemplarischer Einblick in zwei Etappen

Montag, 26. September 2022. Der Wecker klingelt um halb 8. Noch etwas zerknautscht liege ich im gemütlichen Bett einer kleinen Wohnung in Porto, die für zwei Tage meine Unterkunft ist. Viel sehen davon werde ich allerdings nicht. Die Zeit hier ist gut gefüllt. Mit einem Einblick in die Textilproduktion, auf den ich schon seit Beginn meiner Unternehmerinnen-Tätigkeit warte. Deshalb ist das Aufstehen auch nicht ganz so dramatisch. Kaffee, Dusche und ein letzter Blick in die Tasche – schon bin ich auf dem Weg zum Bahnhof. Rund eine Stunde dauert es bis nach Braga, dort erwartet mich Rosa. Sie führt gemeinsam mit ihrer Mutter Maria Augusta eine Agentur, die vorbildliche, zertifizierte Produktionen der Region mit Brands aus aller Welt verbindet. Zum Beispiel mit Jan ‘n June.

Jan 'n June Strickerei
Aus dem neuen Sitzungszimmer überblicken wir die gesamte Strickerei.

Rosa winkt von Weitem. Die Begrüssung ist herzlich, die Freude über meinen Besuch scheint echt zu sein. Tatsächlich verstehen wir uns wunderbar, sprechen schon auf der Fahrt zur ersten Fabrik über Gott und die Welt. Nicht, dass wir uns überall einig wären, aber das Mindset ist definitiv ähnlich. Muss es wohl auch, wir setzen uns schliesslich für dieselben Werte ein.

Garn
Das Garn für die neuen Jan 'n June Stricksachen steht bereit.

Erster Stopp ist die Strickerei in Barcelos bei einem kleinen GOTS-zertifizierten Betrieb mit rund 30 Mitarbeitenden. Rosa ist offenbar eine gerne gesehene Gästin und zweifelsohne oft hier. Sie weiss genau, was wo zu finden ist und kennt die Namen aller – auch jene der Näherinnen. Mir nicken sie ebenfalls freundlich zu, meine unbeholfenen Versuche, auf Portugiesisch zu grüssen, werden mit einem Lächeln belohnt. Noch mehr Strahlen löst allerdings mein T-Shirt aus. Es ist eines aus der aktuellen Jan ‘n June Kollektion, gestrickt in ebendieser Fabrik. «Das haben wir gemacht!», sagen sie stolz.

Strickmaschine
Eine Mitarbeiterin verbindet blitzschnell und hochkonzentriert den Kragen mit dem Body.

Rosa führt mich gekonnt durch die einzelnen Produktionsschritte, beantwortet meine Fragen und holt wo immer nötig weitere Informationen direkt bei den anwesenden Personen ein. Ich lerne den Geschäftsführer kennen, die Verantwortliche für die Produktion und darf auch mit Arbeiter:innen sprechen. Fotos sind hier kein Problem, es gäbe ja nichts zu verstecken. Selbst die sich im Umbau befindende obere Etage zeigen sie mir breitwillig. Hier entstehen mehr Büros und ein grösseres Sitzungszimmer. In Anbetracht des überquillenden kleinen Büros des Chefs keine Vermessenheit. Ich habe nicht den Eindruck, dass Geld nur in diese Etage fliesst, das gesamte Teams wird wertgeschätzt. Der Besuch dauert nicht ausserordentlich lange, hier ist alles sehr überschaubar. Und transparent. Ein guter Start.

Rosa, Maria und Rebekka
Rebekka versteht sich bestens mit den beiden Agentinnen Rosa und Maria Augusta.

Es folgt ein kurzer Spaziergang durch die Stadt, danach Pasteis de Nata an der Sonne. Im Anschluss machen wir kurz Halt in der Agentur, die sich in Braga befindet, und treffen dort Maria Augusta. Die zwei Frauen geben mir kurzerhand eine kleine Touri-Führung durch Braga. Ganz offensichtlich lieben sie ihre Stadt, was nicht allzu schwer nachzuvollziehen ist. Zu Mittag esse ich eine vegetarische Francesinha. Müsse ich probiert haben, erklären mir die Einheimischen. Darüber lässt sich streiten (im Gegensatz zu Pasteis de Nata, das ist tatsächlich ein kulinarisches Meisterwerk!), die Gesellschaft der beiden ist allerdings vorzüglich. Wir könnten problemlos auch den restlichen Tag an der Sonne Vinho Verde trinken und plaudern. Aber wir wollen ja noch die Jersey-Produktion besuchen.

Zuschnitt Streifen
Streifenstoffe werden von Hand zugeschnitten.

Rosa verlässt uns, wir herzen uns innig. Maria Augusta fährt mit mir an den Stadtrand Bragas, wo wir eine hochmoderne Jersey-Konfektion besuchen. Der Eingangsbereich ist fancy gestaltet – alles in Grün. So hätten sie sich an der letzten Textil-Messe präsentiert, erklärt mir Maria Augusta. Die Firma weiss sich zu vermarkten. Es ist aber definitiv nicht nur Schein. Davon zeugt neben den zahlreichen Zertifikaten (GOTS, STeP by oekoTex, GRS,…) auch die Dialogbereitschaft bei meiner Ankunft. Mir stehen alle Türen offen, ich darf alles fragen, jeden Raum betreten. Es gibt einige Büros mehr als in der Strickerei heute Morgen. Vom Design bis zur Qualitätskontrolle, vom Verkauf bis zur Logistik. Da gibt es sogar eine Person, die sich ausschliesslich um Nachhaltigkeit kümmert. Maria Augusta arbeitet seit Jahrzehnten mit dieser Fabrik zusammen, sie zieht sich auch mal noch schnell ein T-Shirt über, um die Passform zu prüfen und regelt im Vorbeigehen gefühlt mit jeder zweiten Person ein paar offene Punkte. Eigentlich steht sie kurz vor der Pension (obwohl sie aussieht wie 50), aber sie ist noch voller Tatendrang. Auch wenn sie immer mal wieder durchblicken lässt, dass sie durchaus ein bisschen müde ist. Die Industrie fordert einem alles ab.

Näherei
Die Näherinnen sitzen fokussiert an ihren Tischen und liefern hochwertige Handarbeit.

Wir schauen uns die komplette Produktionsstrasse an. Vom Wareneingang, der dank neuestem Planungstool erfreulich optimiert ist, über den Schnittbereich mit exakter Lasertechnik (ausser Streife – die wird immer von Hand geschnitten!), der Konfektion bis zu den Bügelstationen und der Qualitätskontrolle. Die letzten Räume sind allerdings leer. «Hier wird meist am Freitag länger gearbeitet, da dann die Spedition die Kartons abholt. Diese Überstunden werden sofort kompensiert, am Montag arbeitet hier niemand», erklärt mir Maria Augusta.

Bügelstationen
Die Bügelstationen sind montags unbesetzt.

Die Näherinnen allerdings sind fleissig am Werk. Da wird auch mal diskutiert und mit Tipps ausgeholfen. Meist sind die Frauen aber sehr konzentriert am arbeiten. Ich bin unsicher, ob sie sich freuen, dass ich mich für ihre Arbeit interessiere oder ob es stört, weil ich sie ablenke. Sie nehmen ihren Job sichtlich ernst und wollen beste Resultate. Mir fällt auf, dass die Menschen, die an den Maschinen sitzen, etwas weniger Lebensfreude versprühen als jene in den administrativen Jobs. Das war schon am Morgen eine subtile Beobachtung. Vielleicht ist es die Sprachbarriere. Wahrscheinlich ist es aber auch einfach die Realität. Diese Menschen ackern sich tagtäglich durch Berge an Textilien, erledigen viel Repetitives, das höchste Präzision erfordert. Es wäre wohl vermessen, von ihnen pure Begeisterung für diesen Job zu erwarten. Es ist am Ende ein Fabrikjob, einer, der volle Konzentration erfordert. Diese Menschen würden wohl kaum behaupten, sie hätten den spannendsten Job der Welt. Aber es ist einer, den sie in hoher Qualität erfüllen können. Und einer, der ihnen ein würdiges Leben ermöglicht. In diesen Fabriken sind ihre Arbeitszeiten geregelt, es ist sauber und sicher und jede:r wird wertgeschätzt. Maria Augusta erklärt mir auch, dass hier alle mehr als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen würden. Kein Lohn, der ein luxuriöses Leben ermöglicht. In den Grossstädten wie Porto oder Lissabon wäre es damit sehr knapp. Hier aber sollten die Familien damit gut durchkommen, versichern sie mir. Ich kann es nicht direkt überprüfen, ich kann mich nur für die Offenheit bedanken und das Beste hoffen. Und zuhause mit meinem Team weiter über die Thematik diskutieren.

Qualitätskontrolle
Maria Augusta hilft bei der Qualitätskontrolle mit.

Jetzt geht es aber erstmal mit dem Zug zurück nach Porto. Ich schlendere in die Innenstadt, lüfte entlang des Duoros meinen Kopf. Viele Eindrücke mit vielen Menschen. Es tut gut, mal kurz keinen konkreten Plan zu haben. Denn schon bald treffe ich René von Carpasus zum Abendessen. Wir läuten die gemeinsame Zeit hier in Portugal bei leckeren Tapas und Portwein ein. Am nächsten Tag steht dann so einiges auf dem Programm.

Dienstag, 27. September 2022. Aufstehen ist an Tag zwei nicht einfacher. Mein Körper weiss wohl, dass ich eigentlich Urlaub habe. Trotzdem bereue ich es keine Sekunde, zwei Tage das Private mit dem Beruflichen verschmelzen zu lassen. Auf die Tour mit René freue ich mich ganz besonders. Er ist extra dafür einen Tag früher angereist und hat für mich diverse Besuche organisiert. Gemeinsam brechen wir auf Richtung Nordosten. René erklärt mir schon unterwegs, dass es sich hierbei um eine Unternehmensgruppe handelt, gegen 1’000 Menschen arbeiten hier. Es gibt eine Spinnerei, eine Weberei, eine Ausrüstung und Färberei sowie eine Konfektion. Alles ist riesig. Ich hätte mich auf dem Firmengelände wohl verfahren. René ist souverän – wie immer – und hält am Tor kurz einen Schwatz auf Portugiesisch mit dem Portier. Schon am Vorabend habe ich verwundert festgestellt, dass er die Landessprache spricht. «Ich lerne noch», meint er bescheiden, «aber es hilft für eine bessere Kommunikation mit den Fabriken».

Jorge
Das Garn für die neuen Jan 'n June Stricksachen steht bereit.

Wir besuchen die Weberei, den grössten Teil des Unternehmens. Schon kurz nach unserem Eintreffen schüttle ich der Frau des Inhabers die Hand. Es weht ein anderer Wind als am Vortag. Nicht weniger herzlich, aber es ist spürbar, dass hier in anderen Grössenordnungen gerechnet wird. Die Finanzverantwortliche nennt die Prognosen für die steigenden Energiepreise. Ich kann nur leer schlucken. Und das obwohl sie wenig von Gas und Öl abhängig sind. 85 Prozent sind erneuerbare Energien. Aber der Bedarf ist riesig. Hier in der Weberei, aber auch in der Ausrüstung. Nicht über alles wird gleichermassen offen geredet, trotzdem werde ich freundlich aufgefordert, all meine Fragen zu stellen. Was ich selbstredend tue.

Webhalle
In der Webhalle ist es laut, heiss und voller Fuseln.

René entwirft im Grossraumbüro bei und mit Jorge seine Hemdenstoffe. Jorge zeigt mir alle Ideen, die sie schon gemeinsam am Computer entworfen hatten. Eine ganze Menge. Er kramt einen grossen Ordner mit den Garnmustern hervor. Es sind hunderte von Farben, diese Auswahl würde mich komplett überfordern. René schmunzelt, die beiden sind inzwischen ein eingespieltes Team. Weniger zum Schmunzeln ist René zumute, als er erfährt, dass die Produktionsslots bis Ende Jahr quasi ausgebucht sind. Er müsse sehr schnell seine Aufträge platzieren, wenn seine Hemden bis im Februar fertig produziert sein sollen. Anscheinend wechseln gerade viele, auch grössere Auftraggeber:innen, nach Portugal. Die Unsicherheiten in Osteuropa (Krieg) und Fernost (Lieferverzögerungen) machen die Produktion in Westeuropa äusserst attraktiv.

Qualitätskontrolle
Jeder Webstoff durchläuft eine penible Kontrolle.

Renés Kontaktfrau spricht bestes Deutsch, führt uns aber in zackigem portugiesischem Temperament durch die Räume. Immer wieder muss ich um einen Halt bitten. Wenn ich schon hier bin, will ich auch alles sehen und möglichst gut verstehen. Zum Glück bringe ich viel Vorwissen mit, wenn auch nur theoretisch. Es geht alles wahnsinnig schnell und der Lärm ist ohrenbetäubend. Mitten in der grossen Halle voller Webmaschinen, blinkender Lichter und umherschwirrender Menschen komme ich mir ganz klein vor. Besonders fasziniert mich die Qualitätskontrolle. Die gewebten Stoffe werden über Lichtfenster gezogen und von Prüfer:innen genau untersucht. In einer unvorstellbaren Geschwindigkeit jagen ihre geschulten Augen über das Gewebe, ihre flinken Hände entfernen Fuseln und stellen sicher, dass das Produkt einwandfrei ist.

Garnfärbung
Diese Garnspulen tauchen demnächst ins Farbbad ein.

René bittet freundlich aber mit Nachdruck um einen Besuch in der Ausrüstung. Ein kurzer Anruf und schon geht es los. Nur wenige Minuten zu Fuss, das Gebäude befindet sich gleich nebenan. Kaum betreten wir es, fällt mir ein unangenehmer Geruch auf. Hier wird ganz offensichtlich mit Chemie hantiert. Mit unbedenklicher, wie ich in Kürze genauer erfahre.

Merzerisierung
Eine von vielen Ausrüstungsmaschinen: Hier werden Stoffe GOTS-konform merzerisiert.

Als erstes sehen wir die Färbekessel für die Garnfärbung, anschliessend diverse imposante Maschinen, zum Beispiel zum Merzerisieren oder für eine fuselfreie Oberfläche. Die Führung durch diese Räumlichkeiten übernimmt eine Chemikerin in einem weissen Labormantel. Sie ist ausgesprochen kompetent, kann jede Frage auf Anhieb beantworten. Insbesondere das Chemikalienmanagement und die Abwasserthematik interessieren mich sehr. Sie erklärt mir, wie das in einem GOTS-zertifizierten Betrieb funktioniert und erläutert die chemischen Vorgänge. Das meiste kann ich nachvollziehen, manchmal scheitern wir an der Sprache oder an meinen spärlichen Chemiekenntnissen. Am Schluss stehen wir lange zu viert im Prüflabor. Die Chemikerin erklärt ihre Vorgehensweisen und warum sie ökologisches Handeln so wichtig findet. Sie interessiert sich für die Philosophie von bioRe und gratuliert René zu dieser Wahl. Noch ist er der einzige Auftraggeber in dieser Fabrik, der auf dieses Garn setzt.

GOTS-Produktionsstrasse
In dieser Produktionsstrasse...

Alle meine Sinne sind ziemlich stark stimuliert. Um die Eindrücke zu verarbeiten und uns darüber zu unterhalten, machen René und ich uns auf in die Innenstadt für ein leichtes Mittagessen. Er will von mir wissen, wie ich alles fand, ob mir etwas aufgefallen sei. Das ist bezeichnend für René, es ist mir schon beim Focus!-Event im April aufgefallen. Er ist sehr selbstkritisch und transparent, was die Sozialverträglichkeit bei Carpasus betrifft. Ihm fällt auf, was ich am Vortag in den Jan 'n June Fabriken festgestellt habe. Die Arbeit an den Maschinen ist hart – und noch dazu repetitiv. Nichts, was wir uns als erfüllend vorstellen. Wir diskutieren darüber, wieso wir das trotzdem vertretbar finden und dass es wohl kaum eine andere Lösung gibt. Trotzdem merken wir, dass uns diese Tatsache beide irgendwie beschäftigt. Sie wird unser Gespräch am heutigen Tag noch mehrmals prägen.

Carpasus T-Shirt
...werden gerade Carpasus T-Shirts nachproduziert.

Gut genährt machen wir uns auf in eine kleine Näherei etwas ausserhalb der Stadt. Klein, aber ziemlich modern eingerichtet. Die Inhaberin ist sichtlich stolz auf die GOTS-Zertifizierung und weist uns überall auf Zeichen ebendieser hin. Auffallend ist neben Hinweisen und klaren Kennzeichnungen eine fein säuberliche Abfalltrennung. Das ist in den Fabriken leider keine Selbstverständlichkeit. Mindestens genauso sehr wie die ernsthafte Umsetzung der GOTS-Auflagen freut uns, dass eine Produktionsstrasse gerade eine Nachproduktion an Carpasus-T-Shirts anfertigt. Wir können quasi jeden einzelnen Schritt verfolgen, die Näherinnen fordern uns sogar auf, Fotos zu machen. Wir merken: Es ist auch für sie ein besonderer Moment, dass der Kunde miterlebt, wer sein Produkt anfertigt – und wie. Ich sehe das Strahlen in Renés Augen, auch für ihn ein schönes Erlebnis. Und ich darf Zeugin davon sein.

Saubere Organisation
Alles ist sauber vorbereitet für ein effizientes Verpacken und Versenden.

Die Zeit vergeht viel zu schnell und wir wollen unbedingt noch weiter in die Hemden-Produktion. Schon vor der Ankunft erklärt mir René, dass es ziemlich herausfordernd sei, Hemden-Nähereien zu finden, die in allen Bereichen voll überzeugen. Sein Partnerunternehmen ist spezialisiert auf Blusen und Hemden und liefert eine grossartige Qualität. Das ist etwas, was auch uns bei glore auffällt: Carpasus-Hemden sind extrem hochwertig sowie langlebig konzipiert und verarbeitet. Die Fabrik durchläuft zurzeit die GOTS-Zertifizierung und bringt damit ihren ernsthaften Anspruch an Nachhaltigkeit zum Ausdruck. Trotzdem sei er nur zu 90% überzeugt, sagt René ganz offen. Weniger strukturiert und manchmal etwas hektisch soll es sein – wenigsten für unser Empfinden als Schweizer:innen. Ich bin gespannt auf den Besuch.

Abfalltrennung
Diese Näherei setzt die Abfalltrennung vorbildlich um.

Vielleicht bin ich nun etwas voreingenommen. Tatsächlich nehme ich nämlich den Start in dieser Fabrik als etwas distanzierter wahr. Weniger herzlich. Ebenso scheint hier die Freude über mein Interesse an ihrer Arbeit etwas kleiner zu sein. Auch Fotos soll ich lieber keine machen, jedenfalls nicht mit den Gesichtern der Arbeitenden. Selbstverständlich respektiere ich die Bitte nach Privatsphäre und fotografiere nur Produkte, Maschinen und Hände. Vor allem allerdings Produkte. Weisse Hemden einer mir unbekannten Marke, genau genommen. Denn die stehen heute auf der Tagesordnung. Es sind Berge davon – und zwar an jeder Arbeitsstation. René pflichtet mir bei: «Dieser Anblick irritiert mich immer wieder. So viele weisse Hemden – ich frage mich, wer die alle tragen soll.» Wir seufzen. Weil wir beide wissen, dass die Problematik der Überproduktion und des Konsumwahns nicht mit etwas «nachhaltiger produzierten» Kleidern bekämpft werden kann.

GOTS-Stoffrollen
Damit es keine Verwechslungen gibt, sind alle GOTS-Produkte klar gekennzeichnet.

Wir sehen uns auch hier alles genau an, vom Zuschnitt bis zur Qualitätskontrolle. Etwas verblüfft notiere ich mir, dass diese Fabrik tatsächlich chaotischer wirkt als die anderen. Das erstaunt mich insbesondere, da ich die Hemden so ausserordentlich überzeugend finde. Ich spüre Renés kritischen Blick und höre seine Fragen. Wir unterhalten uns auch auf dem Heimweg noch darüber. Sind wir zu skeptisch? Wir wissen es nicht. Er halte auf jeden Fall die Augen offen, meint René. Es sei hier grundsätzlich alles unbedenklich, aber Luft nach oben gibt es immer. Da sind wir uns einig. Sozialverträglichkeit ist vielschichtig, komplex und irgendwie subtil. Aber ein absolut wichtiges Ziel. Eines, das wir nur mit der richtigen Skepsis gegenüber den aktuellen Umständen erreichen. Renés Selbstkritik in Bezug auf die Fabriken ist für mich eindeutig ein gutes Zeichen. So ist es mir viel lieber, als wenn ein Brand behauptet, schon alles perfekt zu machen. Wir wollen unbedingt weiter in Kontakt bleiben, Probleme und Herausforderungen diskutieren, mögliche Lösungen und gangbare Wege finden.

Weisse Hemden
Weisse Hemden einer anderen Marke ohne Ende: Dieser Anblick macht René und Rebekka nachdenklich.

Die zwei Tage waren eindrucksvoll. Vieles kannte ich schon, allerdings nur theoretisch. Ich habe unzählige Berichte gelesen, Reportagen geschaut und Gespräche geführt. Dann aber neben der Näherin, vor der Webmaschine oder am Zuschnitt-Tisch zu stehen, löst etwas in mir aus. Ich sehe die Menschen mit ihren fleissigen Händen und den konzentrierten Blicken. Ich sehe die unzähligen Meter an Garnen und Stoffen, die daraus resultierenden Kleiderberge. Ich sehe die kleinen Unregelmässigkeiten, die ein Stück zur B-Ware machen, die Überbleibsel und Abfallsäcke.

René und Rebekka
Rebekka hat Dank René einen umfassenden Einblick in die Carpasus-Produktion erhalten. Danke!

Vor allem aber sehe ich den enormen Aufwand, die Handarbeit, den Fleiss. Schon vorher dachte ich, dass ich Kleidung richtig schätzen gelernt hätte. Jetzt aber nochmals ganz neu. Und irgendwie ehrlicher.